I was cleaning out my gmail file folders and I realized the only thing left of my correspondence with Wolf is a bcc I'd sent to myself of a reply to him--which happens to have the last thing he wrote in quotes, it's about the death of my mother, it's 2017; otherwise there's nothing left from him. I guess it makes sense, that's what would happen when an account is liquidated but it feels so strange for our communications to just be vaporized like that.
Well, I guess I have to bite the bullet and face the music, or rather face the musical bullet, and finally write the contact at Torso, the online literary magazine he was involved with, to confirm like a drooling imbecile what is so obvious. I mean...he always was seventeen years older than me. That never changed.
That and the distances never changed This was the man who told me in Munich, in 1983, or anyway in Bavaria because we did take one day trip, when I was 23 and he was 40 and I was en route to Italy, that I should take the ferry from Venice to Greece. to experience time and distance the way the ancients did.
Well, I never got past Genoa because I got sick. Be that as it may it was Wolf himself who made you experience time and distance the way the ancients did.
I'm going to translate his poems on Torso and the one prose piece, and I think I'll do it right here.
Why not.
Wolf
Re: Wolf
Poems from Torso 2020 supposedly. How can this be? It feels like I found them longer ago.
https://www.torsolit.de/torso-archiv/to ... -gedichte/
Nichts als vergessen . . .
Nichts als vergessen!
Den Wein zu Ende trinken
und das gesalzene Brot mit Öl voll tunken.
Die Augen schweifen lassen,
trunken von soviel Vielfalt
und die Horizonte absuchen mit der Sehnsucht nach
Nirwana.
Nichts als vergessen,
denn die Gedanken sind zu schmerzensreich,
Erinnerungen Qual
und die Gefühle Folter.
Nichts als vergessen
und sich voll saugen mit der Gleichgültigkeit
der Natur.
Habe ich jemals jemanden gekannt?
Geliebt? Nicht ich! Wann denn und wo?
Liegt nicht ein Gestern Äonen zurück?
Ist das Heute denn mehr als ein Wellenschlag
im unendlichen Meer des Vergessens?
Die Schritte, die wir tun
hinterlassen nur Spuren im Sand,
die verwehen,
und unsere Lieben überdauern nicht
das Grünen der Blätter.
Nichts als vergessen,
sonst sterben wir einen frühen Tod
von zu viel Schönheit, zu viel Leid ermordet.
Die Ordnung der Säulen dauert nicht.
Die Tempel zerstäuben im Wind.
Der Urwald überwuchert Ruinen
und Wüsten dorren aus den Wald.
Die Sonnen erkalten und werden
aufgesogen von anderen Massen
Nichts als vergessen,
denn die Ideen
füllen nur Lücken im Zeitenpuls
zwischen den Urexplosionen.
Nichts als vergessen
und im Tönen der Zeit,
den eigenen Ton vernehmen;
die Augen trunken und weit
taumelnd zwischen Illusionen.
* * *
Ein ganzes Jahr ...
Ein ganzes Jahr und nur
Novembertage,
die Nebel heben nicht sich von
den Fluren
und milchig bleich darüber hängt
das Sonnenlicht.
Ein ganzes Jahr nun daß ich die
verlorene Liebe trage,
wie eine Krankheit, die anhielt die
Uhren,
die mich befiel, die Sinne trübte
und die Sicht.
Ein stilles, langes Siechen bis
die Liebe
oder gar das Leben selbst
erlischt.
Gezeiten
Alle Zeiten lassen mich rückwärts hinter sich
und während ich lernend warte auf das Leben,
liegt es gelebt in der Vergangenheit.
Nicht eine Tat, die durchschnitt
den gordischen Knoten meiner Zweifel,
nur die Sehnsucht zittert noch
einer Zukunft entgegen.
Leben für und in den Tag allein
war mir nur selten vergönnt
oder der tröstende Schlaf einer sternklaren Nacht,
wenn alle Räder der Ordnung
ungefährdet in Chaos und Leere
ihre Kreise drehen
und die Zeit eine absolute
und heilende Größe zu sein scheint.
An den Wegesrändern der Straße der Zeit
liegen die toten, gestürzten Götter.
Ihre Kadaver immer noch umschwärmt
von unseren schmarotzenden Hoffnungen.
Doch in der Ausdehnung von Raum und Zeit
werden die Sterne und Götter seltener
und das Nichts ist der Tod
und der Tod ist das
Ende von Sein
und dahinter
liegt das
nicht
sein
von
Sein.
Der siebte Kreis der Hölle . . .
Es liegt dann keine Heilung an.
Die Leiden in immer neuer Wiederkehr,
der Mut versunken
und jeder Neubeginn,
birgt schon das Unheil und
die Zerstörung
allen Tuns
in sich.
Wenn unsre Lieben noch
vor der Erfüllung
die Pein des Endes
in sich tragen
und alles Seiende ist schon gewesen,
jedwede Form schon ausgeholt.
Durch sieben Höllenkreise hat
das Leben sich entleibt.
Im ersten Kreis
die Wahrheit hat
als Lüge sich enttarnt.
Im zweiten
Die Freude sich der
Traurigkeit ergeben.
Im dritten sich
die Lust der allzu täglichen
Gewöhnung
im vierten
fand der Liebe Sehnen
keine Herzen mehr,
Im fünften
Hat der strukturierte Geist
Dem Chaos nicht mehr standgehalten.
Im sechsten
hat der Körper,
Träger unseres Seins,
versagt.
Und letztlich hat
im siebten dann
das Sein sich selbst verleugnet,
um den Schmerzen zu
entgehen.
Im Ende war das Wort entleert!
https://www.torsolit.de/torso-archiv/to ... -gedichte/
Nichts als vergessen . . .
Nichts als vergessen!
Den Wein zu Ende trinken
und das gesalzene Brot mit Öl voll tunken.
Die Augen schweifen lassen,
trunken von soviel Vielfalt
und die Horizonte absuchen mit der Sehnsucht nach
Nirwana.
Nichts als vergessen,
denn die Gedanken sind zu schmerzensreich,
Erinnerungen Qual
und die Gefühle Folter.
Nichts als vergessen
und sich voll saugen mit der Gleichgültigkeit
der Natur.
Habe ich jemals jemanden gekannt?
Geliebt? Nicht ich! Wann denn und wo?
Liegt nicht ein Gestern Äonen zurück?
Ist das Heute denn mehr als ein Wellenschlag
im unendlichen Meer des Vergessens?
Die Schritte, die wir tun
hinterlassen nur Spuren im Sand,
die verwehen,
und unsere Lieben überdauern nicht
das Grünen der Blätter.
Nichts als vergessen,
sonst sterben wir einen frühen Tod
von zu viel Schönheit, zu viel Leid ermordet.
Die Ordnung der Säulen dauert nicht.
Die Tempel zerstäuben im Wind.
Der Urwald überwuchert Ruinen
und Wüsten dorren aus den Wald.
Die Sonnen erkalten und werden
aufgesogen von anderen Massen
Nichts als vergessen,
denn die Ideen
füllen nur Lücken im Zeitenpuls
zwischen den Urexplosionen.
Nichts als vergessen
und im Tönen der Zeit,
den eigenen Ton vernehmen;
die Augen trunken und weit
taumelnd zwischen Illusionen.
* * *
Ein ganzes Jahr ...
Ein ganzes Jahr und nur
Novembertage,
die Nebel heben nicht sich von
den Fluren
und milchig bleich darüber hängt
das Sonnenlicht.
Ein ganzes Jahr nun daß ich die
verlorene Liebe trage,
wie eine Krankheit, die anhielt die
Uhren,
die mich befiel, die Sinne trübte
und die Sicht.
Ein stilles, langes Siechen bis
die Liebe
oder gar das Leben selbst
erlischt.
Gezeiten
Alle Zeiten lassen mich rückwärts hinter sich
und während ich lernend warte auf das Leben,
liegt es gelebt in der Vergangenheit.
Nicht eine Tat, die durchschnitt
den gordischen Knoten meiner Zweifel,
nur die Sehnsucht zittert noch
einer Zukunft entgegen.
Leben für und in den Tag allein
war mir nur selten vergönnt
oder der tröstende Schlaf einer sternklaren Nacht,
wenn alle Räder der Ordnung
ungefährdet in Chaos und Leere
ihre Kreise drehen
und die Zeit eine absolute
und heilende Größe zu sein scheint.
An den Wegesrändern der Straße der Zeit
liegen die toten, gestürzten Götter.
Ihre Kadaver immer noch umschwärmt
von unseren schmarotzenden Hoffnungen.
Doch in der Ausdehnung von Raum und Zeit
werden die Sterne und Götter seltener
und das Nichts ist der Tod
und der Tod ist das
Ende von Sein
und dahinter
liegt das
nicht
sein
von
Sein.
Der siebte Kreis der Hölle . . .
Es liegt dann keine Heilung an.
Die Leiden in immer neuer Wiederkehr,
der Mut versunken
und jeder Neubeginn,
birgt schon das Unheil und
die Zerstörung
allen Tuns
in sich.
Wenn unsre Lieben noch
vor der Erfüllung
die Pein des Endes
in sich tragen
und alles Seiende ist schon gewesen,
jedwede Form schon ausgeholt.
Durch sieben Höllenkreise hat
das Leben sich entleibt.
Im ersten Kreis
die Wahrheit hat
als Lüge sich enttarnt.
Im zweiten
Die Freude sich der
Traurigkeit ergeben.
Im dritten sich
die Lust der allzu täglichen
Gewöhnung
im vierten
fand der Liebe Sehnen
keine Herzen mehr,
Im fünften
Hat der strukturierte Geist
Dem Chaos nicht mehr standgehalten.
Im sechsten
hat der Körper,
Träger unseres Seins,
versagt.
Und letztlich hat
im siebten dann
das Sein sich selbst verleugnet,
um den Schmerzen zu
entgehen.
Im Ende war das Wort entleert!
Last edited by Roshan on Wed Aug 03, 2022 3:39 pm, edited 4 times in total.
Re: Wolf
Supposedly 2021,
https://www.torsolit.de/torso-archiv/to ... f-breiden/
J. Wolf Breiden
Verbleichende Schatten
Seit den frühesten Morgenstunden waren wir mit unserem kleinen Kahn auf See gewesen. Meine Aufgabe war es, die in der Nacht ausgelegten Netze per Hand einzuholen. Jetzt lagen wir in einer kleinen, abgelegenen Bucht an der Südküste Kretas vor Anker.
Erschöpft ließ ich mich in den Sand fallen. Die Sonne stand noch nicht sehr hoch, es war April aber schon ziemlich heiß. Einige Tamarisken gaben einen wohltuenden, hellen Schatten. Die Bucht war menschenleer bis auf eine einzelne Frau, die sich am anderen Ende sonnte. Sofort schlief ich ein.
Mich fröstelte plötzlich. Ich wachte auf. Die Luft war bleiern und grau. Irgendetwas stimmte nicht! Kein Laut war zu hören, kein Vogelgesang, kein Zikadenzirpen. Das Meer lag spiegelglatt und silbern wie aus Quecksilber.
Ich sah, wie die einsame Badende auf mich zu kam. Als ich zu ihr aufblickte, sah ich, die Sonne fast verschwunden, obwohl keine Wolken am Himmel waren. Die Schatten der Bäume waren erblichen. Die Farben nur noch blaß und schmutzig.
Die Frau sah mich fragend an. Sie zitterte am ganzen Körper.„Are You American?“ fragte sie mit sehr britischem Akzent, und aus einer Laune heraus bejahte ich. „Darf ich mich zu dir setzen? Ich fürchte mich!“ Ich wies einladend auf mein großes Handtuch. „Eine Sonnenfinsternis!“ sagte ich erklärend. Sie nickte und legte sich neben mich. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich sie. Undefinierbares Alter um die dreißig. Ihr Körper
war gut in Form, sportlich und braun gebrannt. Sie zitterte gottserbärmlich, und plötzlich fing sie an zu weinen. Ich legte mein Hemd über sie und versuchte sie zu beruhigen. Es nützte nichts. Also legte ich meinen Arm um sie und drückte sie an mich. Wir redeten kein Wort.
Inzwischen stand die Sonne nur noch als dünne Sichel wie ein türkischer Halbmond
am griechischen Himmel. Todmüde wie ich war, schlief ich wieder ein – engumschlungen.
Als ich aufwachte, war das Licht wieder heller. Die Farben kehrten zurück und es wurde wärmer. Vereinzelt wagten einige Vögel ein leises Lied. Die Unbekannte schlief fest in meinen Armen.
Die Frage ob etwas Zufall oder Bestimmung ist, wird wohl immer unbeantwortet bleiben, falls nicht doch ein eventuell eintretender „Jüngster Tag“ die Lösung aller Rätsel bietet. Die Sonnenfinsternis hatte ihren höchsten Stand überschritten. Die Schatten schwärzten sich zusehends wie Fotopapier in der Entwicklerschale. Kontraste stiegen aus der Fahlheit, Helles wurde heller, Dunkles dunkler, Farbiges farbiger. Durch die Sonnenbrille sah ich nur noch einen kleinen, dunklen Fleck am Rande der Sonne. Die Wärme tat gut, und meine Unbekannte erwachte. Mit großen, dunklen Augen sah sie mich an. „Danke!“sagte sie und küßte mich. Vorsichtig wie Armstrong seinen Fuß auf den Mond, so setzten wir gleichzeitig unsere Fingerspitzen auf den Körper des Anderen, langsam in immer größeren Kreisen diesen unbekannten Planeten erforschend, allzeit bereit sich zurückzuziehen auf das "Mutterschiff" in die Geborgenheit des eigenen Ichs. Aber hier war keine Gefahr, kein Verletztwerden ersichtlich. Die Schönheit unserer Entdeckungen überwältigte uns. Die Worte verstummten, und wir lagen uns in den Armen. Greifend, klammernd, das Gefundene nur ja festhaltend. Die Lust, eine Haut zu spüren, einen fremden Mund mit der Zunge zu erfühlen! Schweiß in der Sonne, die Haare kitzelnd auf der Haut, und Leidenschaft überkam uns. Wir rollten im klebenden Sand, Beine und Arme ineinander verrenkt wie Laokoons Glieder mit der Schlange. Irgendwann dann - kurz vor der Ekstase - durchfuhr mich der Schock. Mein ganzes Inneres verkrampfte sich. Gefühl, Verstand und Unterbewußtsein reagierten vollkommen synchron auf diesen einen optischen Reiz. In den Himmel war mit Gewalt die Hölle eingebrochen! Ich hatte ihren Arm gesehen. Sei es, daß wir uns schon so nahe gekommen waren, daß die Impulse schon direkt über unsere Haut verstanden wurden, sei es, daß sie diesen Schock kannte aus der Erfahrung ihrer Jahre, sie begriff sofort. Resigniert wendete sie sich von mir ab, und ich tat in einer gegenläufigen Bewegung das gleiche. Mit toten Augen stierte ich in den Himmel und war unfähig sie anzusehen. Sie hob ihren Arm vors Gesicht."Ich war noch ein Kind, deswegen sind sie so groß," erklärte sie, und ihre ruhige Stimme löste meinen Krampf. Mit blauer Tinte war auf ihrem Unterarm eine KZ Nummer eintätowiert." Sie ist mitgewachsen! Zusammen sind wir aufgewachsen. Ich bin ihr nie entwachsen. Wir werden zusammen alt"wachsen" (so die wörtliche Übersetzung). Der Hölle kann man nicht entfliehen!"Es folgten lange, stumme Augenblicke. Bilder zerfetzten mein Gehirn: Fotos – schwarzweiß, Wochenschauen, amerikanische und russische Filme. Geöffnete Tore, Skelette, Öfen. Mütter mit Kindern mit großen, verhungerten Augen. - Gespenster die sich an Stacheldrahtzäune drängen. Gestalten, die so wenig Fleisch als
Wangen haben, daß das ungläubige Lächeln über geöffnete Tore zu einer Horrorgrimasse wird, mit der sie ihre Befreier begrüßen. Gerichtssäle wo Zeugen ihre Unterarme entblößen.
Ungläubig blickte ich zu ihr hinüber. Konnte es da eine Verbindung geben zwischen diesem schönen, braungebrannten Körper und diesen schwarzweißen Archivfotos? Sie hatte die Augen geschlossen. Der Ausdruck einer Sphinx. Sie spürte meinen Blick. "Ich hasse die Sauerkrauts! Noch immer. Ich weiß, ich sollte dies nicht sagen, nicht fühlen. Ich kann nicht anders! Ich habe es oft bekämpft. Ich kann aber nicht vergessen! Ich mag die Krauts auch heute noch nicht!"
Da ist er, dieser Knoten in meinem Hals, den wir Deutsche bei so manchen Reaktionen im Ausland, schlimmer denn je, und ich habe das Gefühl, er ist zu Recht da. Ich bin schuldig. Verlogen. Da saß ich nun unter meiner amerikanischen Tarnkappe und hatte mich als deutscher Spion in ihr Gefühl eingeschlichen, ließ sie unbewußt zum Verräter an ihren Erfahrungen werden. Ich mußte es ihr sagen. Mit einer Lüge kann man keine Beziehung beginnen. Aber die Wahrheit, spürte ich, wird sie beenden, ehe sie recht begonnen hat. Dieser Gedanke traf mich viel schmerzlicher, als ich gedacht hätte. Ich liebte sie! Schon jetzt, jetzt schon. Wir hatten schon zu viel abgeblättert von unseren Egos. Schon zu viel preisgegeben. Schon zu viel erkannt, und alles stimmte, wie ein Puzzle, das aufgeht, so fügten wir uns ineinander. Für einander gemacht schienen wir, allen Wahrscheinlichkeitsstatistiken zum Trotz; nun plötzlich diese zwei Steine, die sich nicht harmonisch ins Bild fügten, die deutsch- jüdischen Puzzlesteine. Als ob sie meine Gedanken erriet, murmelte sie:
"Ich könnte nie einen Deutschen lieben!" Und dann mit einem hellen Lachen wirft sie sich auf mich, "aber du bist ja kein gottverdammter Kraut. Dich kann ich lieben und ich glaube, ich fange schon an damit, du Scheißkerl! Verdreht mir mit seinem all-american Charme den Kopf. "
Sie biß mir liebevoll in die Nase, legte sich kuschelnd wie eine Glucke auf mich drauf, pustete meine Haarsträhne aus der Stirn und blickte mir tief in die Augen. „Ich liebe ihre Sommersprossen“, dachte ich, im Bruchteil einer Sekunde von ihrer erneuten Fröhlichkeit hingerissen, bis mein Magen wieder versackte. Judas muß sich so gefühlt haben nach dem verräterischen Kuß. Sie wollte unser unterbrochenes Liebesspiel wieder anfangen. Ich konnte nicht. Unmöglich. Bevor sie es merkte, schaute ich auf die Uhr." Es ist zu spät! Ich muß zurück aufs Boot!" Ich erzählte, daß ich den ganzen Sommer auf einem Fischerboot arbeitete, daß wir morgens und abends auf dem kleinen Kahn ausliefen, unsere hunderte Meter langen Netze setzten und sie ein paar Stunden später wieder einholten. Sie schmollte, weil ich sie schon verlassen wollte, akzeptierte aber unter der Bedingung, sie morgen wieder hier zu treffen. Ich versprachs mit einem Kuß. „Ich heiße Erika!“ „ Thomas!“ rief ich und sprang auf und lief davon. Erst einmal Zeit gewinnen zum Nachdenken.
Obwohl wir sehr oft auf dem Schiff übernachteten, warfen wir diesmal die Netze so nahe an der Küste aus, daß wir in den kleinen Ort zurückkehrten.
Im Hafen saß ich dann noch mit meinen beiden griechischen Fischern und schauten der untergehenden Sonne zu. Eine Karaffe „Raki“ nach der anderen wurde geleert, und das Meze war unser einziges Abendbrot. Als wir mehr als genug hatten, den Kopf voll von
Schnaps und Geschichten, ging ich zu dem kleinen Verschlag, den ich in einer Pension –„Bei Katharina“ gemietet hatte. Eine kleine Zelle mit einer dicken Tür und einem vergitterten Fenster, durch das allein Licht in das Innere gelangen konnte.
Es drehte sich alles in meinem Kopf. Meine Zimmertür ratterte im Wind. Die große Hoftür wurde aufgestoßen. Herein getrieben wurden im fahlen Licht Rodins Bürger von Calais. In Ketten. Man pfercht sie in mein Zimmer. Hände greifen durch die Gitterstäbe. Schreie, Stöhnen, Kettenrasseln. Ein SS-Typ verteilt Sauerkraut mit einem Schöpflöffel in die hohlen Hände. Eine der Hände ist braun und gar nicht ausgemergelt. Erika preßt das Gesicht an die Gitter und schlingt das Sauerkraut in sich hinein. Es sieht aus wie ein Bündel triefender Haare. Im Hof werden zu Skeletten abgemagerte Neuankömmlinge lebend in Fischnetze gerollt. Die Feuerfische mit ihren giftigen Stacheln, auf die ich beim Einholen der Netze immer so achtgeben muß, zappeln zu hunderten in den Maschen. Eine überdimensionale, lebende Dornenkrone. Schreie! Gregorius der ältere Fischer zieht an den Netzleinen. Die Küchentür im Hof wird aufgemacht. Der Ofen ist sichtbar. Flammenschein an den Türritzen. Er läuft auf Hochtouren. Aus der Dusche nebenan steigt weißer Rauch, der nach Säure riecht.
Ich öffne die Tür. Erika steht unter der Dusche und aalt wohlig ihren nackten Körper im sprühenden Strahl. Plötzlich schrumpft sie zusammen, zerknittert, zerfällt wie von Säure zerfressenes Styropor. Ich werfe die Tür mit einem Knall ins Schloß. Es ist die Hoftür,
Gregorius steht neben mir: "Wachen auf! Viel spät!"
Er strich mir mit einer väterlichen Geste übers Haar. Ich erwachte und sah, daß der Himmel sich schon rot färbte. Es war kurz vor Sonnenaufgang. Höchste Zeit, die Netze einzuziehen, sonst fressen bei aufgehender Sonne die Fische ihre gefangenen Artgenossen bei lebendigem Leibe auf, und man holt nur noch Gräten ein. Ich zog den Kopf unter seiner Hand weg. "Pame!" sagte ich. Gegen Mittag laufe ich zu unserer Bucht. Erika rennt mir freudig entgegen. Wir springen, lachen, schwimmen, legen Muschelmosaike auf unsere nackten Körper. Herzen von Pfeilen durchbohrt. "I love Thomas!" Wir sind ausgelassen und fröhlich und es gibt wenig Fragen, so verrate ich mich nicht.
Eines Tages erzählt sie mir ungefragt, wie sie im Lager als kleines Mädchen mißbraucht wurde. Jetzt lebt sie in Israel und kommt seit zwei Jahren hierher, um in Ruhe an ihrer Doktorarbeit zu arbeiten. Tief im Hals sitzt mein Kloß. Ich ignoriere ihn, wie ein Krebskranker seinen Tumor, weil er noch ein paar schöne Tage erleben will.
So vergingen die Tage, und Wochen. Und schließlich sorglos zwischen Arbeit und Liebesspielen war es Juli geworden. Die Sonne stach senkrecht herab. Um der Hitze zu entgehen, flohen wir ins Wasser und tummelten uns wie zwei Delphine, bis wir uns erschöpft und verfroren in den heißen Sand fallen ließen. Wir waren sehr glücklich und sehr hungrig. Wir stiegen in unsere Shorts und schlenderten auf das Dorf zu.
Während des Essens sagte sie unvermittelt: "Einen Kraut übrigens mag ich doch!" Ich denke, sie hat mich durchschaut, aber da deutet sie auf einen alten, hageren Mann, der sich gerade an einen der Nachbartische setzt. "Er lebt schon seit vielen Jahren hier und verführt die griechischen Knaben", fügte sie spitz lächelnd hinzu. "Er ist ganz anders als andere Deutsche. Ich habe ihn letztes Jahr kennengelernt. Manchmal tanzen wir abends in der Diskothek zur Bouzouki." Ich muß sehr erstaunt ausgesehen haben. Ob sie ihn nicht nur deswegen anders finde, weil sie ihn besser kennenlernte als andere, fragte ich. „Nein, nein! Griechenland hat ihn verändert". Später kam er herüber und lud uns zum Kaffee in sein Haus ein. Es war ein Zimmer mit einer herrlichen Terrasse. Außer einem großen Bücherregal war nur das Allernötigste vorhanden. Man nenne ihn hier „Kostas“ stellte er sich vor und begann auf einem kleinen Spirituskocher griechischen Kaffee zu kochen. Sie legte ihren Kopf an meine Schulter. "Ist er nicht umwerfend?" scherzte sie mit Kostas auf Deutsch. "Laß ja deine Finger von ihm!" "Er wäre aber aber eine willkommene Abwechslung von der griechischen Alltagskost“, lachte Kostas zurück. Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. "Untersteh dich! Der ist ganz mein!" Ich fühlte mich wie ein Kalb auf der Fleischbank. "Ich wußte gar nicht, daß du Deutsch sprichst?" warf ich auf Englisch ein, um das Thema zu wechseln "Macht dich das nervös, wenn du uns nicht verstehst, mein großer, amerikanischer Dummling?" Das Versteckspiel muß ein Ende haben, sagte ich mir.
"Ich bin bei einer Tante in London aufgewachsen. Sie war bei mir, als
die Tore von Auschwitz aufgingen. So lernte ich zuerst Krautsprache“, erklärte sie. Kostas drehte uns betont den Rücken zu und rührte etwas zu lange in seinem Kaffeepott. Ich legte den Arm um sie und zog sie sanft auf die Terrasse. Stumm glitten unsere Blicke zu der Linie, wo sich Meer und Himmel berühren.
"Ich muß dir etwas gestehen!" sagte ich auf Deutsch. Entsetzen in ihren Augen. Sie tritt einen Schritt zurück."Ich bin Deutscher“, kam es mir sehr schwer über die Lippen. Die Situation, in die wir geraten sind, hat diesen Satz zu einem Schuldbekenntnis werden
lassen. Ein Ausdruck unsäglicher Traurigkeit erfasste sie. Langsam glitt sie rückw.rts in den Schatten des Zimmers. Eurydike entschwindet erneut in den Hades, und wie Orpheus streckte ich die Hand aus, um sie zu halten."Erika!" Sie ist schon fort durch die Tür, die Treppe hinunter. Ich versuchte nicht, ihr zu folgen. Eingetreten war nur, was vorauszusehen gewesen war.
Abends sah ich sie dann, wie sie am Strand stehend unserem auslaufenden Boot nachschaute. Diese Nacht blieben wir draußen vor Anker. Ich schlief nicht und durchforschte rücklings auf den Planken liegend das Universum. Griechenland muß dem Himmel ein Stück näher sein. Man sieht mehr Sterne als anderswo. Ich fühlte mich winzig mit meiner verlorenen Liebe. Unendlich allein in einer übergroßen, unberührten Natur. Was erkannte ich von dieser Welt? Ein Staubkorn auf einem Raumschiff namens Erde dahinfahrend. Welche Welten und Wirklichkeiten blieben von mir unerkannt von diesem meinem so subjektiven Beobachtungsposten aus? Was war all dies um mich herum - Zufall oder Notwendigkeit? Was war ich, Produkt des Zufalls oder -? Einstein hatte nur bedingt Recht, durchfährt es mich. Die größtmögliche Geschwindigkeit ist nicht die des Lichts, sondern die unserer Gedanken. Sind sie wirklich immateriell? Sind sie nicht auch Energien, Strahlen, die ich jetzt durch das All schieße? Sie stellen Verbindungen her, also können sie nicht nur in meinem Inneren verharren. Sind sie nicht nur der Schlüssel zur Erkenntnis, sondern das Geheimnis selber? Kräfte, die ich benutze, deren Substanz mir aber unbekannt ist. Der Morgen dämmerte, und ich braute auf dem kleinen Kocher unseren Kaffee, den wir schweigend schlürften. Allmorgendlich eine fast sakrale Prozedur, ehe wir noch etwas steif anfangen, die Netze einzuholen.
Erika ging mir tagelang aus dem Weg. Sie war ein Schatten, den ich spürte, aber nie sah. Jeden Tag wurde meine Sehnsucht nach ihr stärker, und ich dachte kaum noch an etwas anderes. Aus lauter Verzweiflung besuchte ich Kostas öfters, weil ich wußte, daß er mit ihr in Kontakt stand. Er erzählte viel von seinem Leben seit dreißig Jahren in Griechenland, nie aber von Deutschland. Dorthin wolle er nicht mehr zurück. Er bekäme von dort eine kleine Pension, mit der er hier gerade auskomme. Ich wurde nicht schlau aus ihm. Jeden Tag las er seinen Goethe, ansonsten Reiseberichte und Lyrik. Kazantzakis und Rilke, Kavafis und neuere griechische Lyriker. Er lebte sehr bescheiden und gönnte sich nicht einmal eine Zeitung.
Eines Tages kam er zu „Katharinas“ in mein Zimmer. Ich lag auf der Pritsche und dachte an Erika. Sie habe ihm aufgetragen, mit mir zu reden. Sie reise bald ab und lasse mich umarmen. „Erika liebt dich, aber sie sagt, sie habe nicht die Kraft, diese Liebe auszuleben. Vor sich selbst habe sie Angst, vor der Gewalt der Erinnerungen, vor ihrem Unterbewußtsein. Plötzlich mußte ich lachen. All dies schien mir die Absurdität und die Ironie einer antiken Tragödie zu haben.
"Wir können alle nicht über unseren Schatten springen“, bemerkte Kostas. Ich dachte unwillkürlich an „unsere“ Sonnenfinsternis. Es gibt Momente ohne Schatten, da müßten wir eigentlich frei sein! Wie von weit her hörte ich Kostas: Er hatte auf die Grenzen in uns hingewiesen; jetzt wies er auf Grenzen außerhalb von uns hin: "Wir können alle unserem Schicksal nicht entfliehen!“
Dies war der letzte zusammenhängende Satz, den er in seinem Leben sprechen sollte.
Gedankenverloren nahm er einen Zeitungsartikel in die Hand, den ich mir aus einer deutschen Zeitung ausgeschnitten hatte. Er war schon ein paar Tage alt und die Nachricht längst im Strom der Geschichte untergegangen. Besprochen wurde eine Ausstellung afro-amerikanischer Kunst, ein Thema, das mich interessierte. Kostas überflog ihn flüchtig, spielte mit dem Papier, drehte und wendete es, während ich über unser angeblich unvermeidbares Schicksal nachdachte. Plötzlich fing dieser an die siebzig Jahre Alte an zu zittern. Sein Gesicht verfärbte sich grün. Er stand auf und tappte zur Tür hinaus. Ich lief hinterher. Was ihm fehle? Er schüttelte nur den Kopf. "Allein!" lallte er und stieß mich von sich. Ich folgte ihm bis zu seiner Tür, aber er wollte mich nicht mit hineinlassen und schloß von innen ab. Befremdet ging ich nach Hause. Am nächsten Morgen war seine Tür noch immer verschlossen, und ich kletterte über die Veranda.
Kostas lag auf dem Bett, so wie er mich verlassen hatte - angezogen. Er stank entsetzlich. Alles war vollgekotzt und auch seine Hose war beschmutzt. Er sabberte vor sich hin, als er mich sah:"Fürchterlich! Fürchterlich!" wiederholte er immer wieder. "Schicksal! Mein bester Kamerad! " Ich lief die Treppe hinunter, um Hilfe zu holen und stieß beinahe mit Erika zusammen, die Kostas gerade besuchen wollte.“Komm mit!" sagte ich nur und rannte wieder zurück. Sie stürzte direkt nach mir ins Zimmer, wo sie entsetzt stehen blieb. Mit ein paar Worten erklärte ich, was ich wußte und wir beschlossen, daß sie Katharina zu Hilfe hole.
Dann sah ich meinen Zeitungsausschnitt auf dem Boden liegen. Die Rückseite lag nach oben. Ein durch meinen Schnitt amputierter Artikel war in Teilen. lesbar. Wie Schuppen fiel es mir von den Augen und ich begriff. Kostas hatte ihn in meinem Zimmer zufällig gelesen, und vor Aufregung hatte ihn der Schlag getroffen. Berichtet wurde über den Sühneakt einer antifaschistischen, ehemaligen Partisanengruppe, die in Frankreich einen untergetauchten Naziverbrecher -SS-Offizier Peiper- bei Traves in Ostfrankreich aufgespürt und ihn mitsamt seinem Haus verbrannt hatte. Eine Liste mit Namen von verschwundenen Kriegsverbrechern ließen sie zurück und das Gelübde, diese alle aufzuspüren und umzubringen. "Thomas hier!"stammelte Kostas. Er bäumte sich auf und versuchte meine Hand zu greifen. Angeekelt zuckte ich zurück.
"Mein Leben. Vertan!" Er starrte mich mit riesigen Augen an. Die alte Haut sank in alle Mulden seines Schädels, sodaß er wie ein Totenkopf aussah. Er sah, daß ich begriffen hatte. Ich wandte mich ab und starrte aufs Meer. Meine Gefühle lagen im Widerstreit und ehe ich Klarheit gewinnen konnte, hörte ich Schritte. Hastig verbarg ich den Artikel in meiner Hosentasche. Erika und Katharina kamen mit Tüchern und heißem Wasser und begannen ihn auszuziehen und zu waschen.
Den Rest des Tages und die folgende Nacht saßen Erika und ich stumm bei ihm Wache. Ich war ratlos, ob ich ihr die Wahrheit sagen sollte. Seitlich auf dem Bett hockend erinnerte sie mich an biblische Bilder. Maria nach der Kreuzabnahme Jesu. Ihr Haar verdeckte einen Teil ihres Gesichts. Das Jahrhunderte alte Leiden ihres Volkes prägte jetzt ihre Züge. Vielleicht ist er der Henker ihrer Eltern, dachte ich.
Schweigend reichte ich ihr die Zeitung. Sie las sehr langsam, bis ihr Arm mit dem Fetzen Papier herabsank. "Irgendwo in mir habe ich es gewußt!" Sie hatte verstanden. Es folgte ein unendlich schweres Schweigen. Nur das Röcheln des Kranken kratzte an der fast absoluten Stille.
Sie bückte sich über ihn und zog die Decke höher über seine Schulter „Er ist jetzt nur noch ein alter, kranker Mann!" Als ob sie ihre Geste entschuldigen müßte. Ich wußte nicht, wohin ich sehen sollte.
"Thomas?" Kostas erwachte aus seinem Dämmerzustand. "Hand, bitte!" Er hauchte die Worte nur, aber die Stille der Nacht ließ sie vernehmbar werden."Gib sie ihm!" sagte sie, als sie mein Zögern spürte. Weit von mir gestreckt, ließ ich meine Hand berühren. Er umklammerte sie mit erstaunlicher Kraft. "Entsetzliche Schuld. Vergebt mit!" Ich legte ihm die andere Hand auf die Stirne. Mich bittet er um Vergebung? Absurd!. Wer bin denn ich, ein Urteil zu fällen oder gar zu vergeben? Meine Augen schwammen in Tränen. Ich wandte mich ab.
"Thomas!" Ihre Stimme ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. Sie wies auf Kostas. Seine Augen waren gebrochen. Wie im Trance erhob sie sich, drückte ihm die Augen zu. Ganz sanft umschloß ich ihre Hand, und wie eine Schlafwandlerin lies sie sich aus dem
Zimmer des Toten führen.
Als wir an meiner Pension vorbeikamen, klammerte sie sich an mich und übernahm die Führung bis in mein Zimmer. Der Schock der letzten Stunden hatte mich betäubt. Eng aneinander geschlungen versanken wir sofort in tiefen Schlaf. Ich erinnere mich, wie ich mit Erika im Arm von diesem Planeten herunterfiel. Wir stürzten in die unermeßlichen Tiefen des Raumes, Lichtjahre entfernt von aller Materie, nur wir beide, füreinander, von der totalen Einsamkeit der Leere umgeben.
Ich wachte auf, als die Sonne bereits hell durch das Gitterfenster schien. Man konnte in die grünen Wipfel einer Palme und einer Platane sehen, die, wie aus einem Stamm kommend, fast verwachsen an der seitlichen Hofmauer standen.
Erika erwachte. Die Sonne strahlte auf unser Bett. Langsam im Zeitlupentempo begannen wir unser Liebesspiel und steigerten es hin bis zu einer nicht enden wollenden Ekstase. Alle Tiefen und Höhen spielten wir aus. Liebe und Haß und Zärtlichkeit und Wollust, das Dämonische, Tierisches, Menschliches, Gewalt und Unterwerfung, Macht und Ohnmacht, die Verachtung, die Verherrlichung, die Sehnsucht, die Erfüllung, Erkennen und Verstehen, Hoffnung und Schmerz, Trauer und Freude, Leid und Lachen, Begierde und
Rausch.
Ierapetra, Kreta
https://www.torsolit.de/torso-archiv/to ... f-breiden/
J. Wolf Breiden
Verbleichende Schatten
Seit den frühesten Morgenstunden waren wir mit unserem kleinen Kahn auf See gewesen. Meine Aufgabe war es, die in der Nacht ausgelegten Netze per Hand einzuholen. Jetzt lagen wir in einer kleinen, abgelegenen Bucht an der Südküste Kretas vor Anker.
Erschöpft ließ ich mich in den Sand fallen. Die Sonne stand noch nicht sehr hoch, es war April aber schon ziemlich heiß. Einige Tamarisken gaben einen wohltuenden, hellen Schatten. Die Bucht war menschenleer bis auf eine einzelne Frau, die sich am anderen Ende sonnte. Sofort schlief ich ein.
Mich fröstelte plötzlich. Ich wachte auf. Die Luft war bleiern und grau. Irgendetwas stimmte nicht! Kein Laut war zu hören, kein Vogelgesang, kein Zikadenzirpen. Das Meer lag spiegelglatt und silbern wie aus Quecksilber.
Ich sah, wie die einsame Badende auf mich zu kam. Als ich zu ihr aufblickte, sah ich, die Sonne fast verschwunden, obwohl keine Wolken am Himmel waren. Die Schatten der Bäume waren erblichen. Die Farben nur noch blaß und schmutzig.
Die Frau sah mich fragend an. Sie zitterte am ganzen Körper.„Are You American?“ fragte sie mit sehr britischem Akzent, und aus einer Laune heraus bejahte ich. „Darf ich mich zu dir setzen? Ich fürchte mich!“ Ich wies einladend auf mein großes Handtuch. „Eine Sonnenfinsternis!“ sagte ich erklärend. Sie nickte und legte sich neben mich. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich sie. Undefinierbares Alter um die dreißig. Ihr Körper
war gut in Form, sportlich und braun gebrannt. Sie zitterte gottserbärmlich, und plötzlich fing sie an zu weinen. Ich legte mein Hemd über sie und versuchte sie zu beruhigen. Es nützte nichts. Also legte ich meinen Arm um sie und drückte sie an mich. Wir redeten kein Wort.
Inzwischen stand die Sonne nur noch als dünne Sichel wie ein türkischer Halbmond
am griechischen Himmel. Todmüde wie ich war, schlief ich wieder ein – engumschlungen.
Als ich aufwachte, war das Licht wieder heller. Die Farben kehrten zurück und es wurde wärmer. Vereinzelt wagten einige Vögel ein leises Lied. Die Unbekannte schlief fest in meinen Armen.
Die Frage ob etwas Zufall oder Bestimmung ist, wird wohl immer unbeantwortet bleiben, falls nicht doch ein eventuell eintretender „Jüngster Tag“ die Lösung aller Rätsel bietet. Die Sonnenfinsternis hatte ihren höchsten Stand überschritten. Die Schatten schwärzten sich zusehends wie Fotopapier in der Entwicklerschale. Kontraste stiegen aus der Fahlheit, Helles wurde heller, Dunkles dunkler, Farbiges farbiger. Durch die Sonnenbrille sah ich nur noch einen kleinen, dunklen Fleck am Rande der Sonne. Die Wärme tat gut, und meine Unbekannte erwachte. Mit großen, dunklen Augen sah sie mich an. „Danke!“sagte sie und küßte mich. Vorsichtig wie Armstrong seinen Fuß auf den Mond, so setzten wir gleichzeitig unsere Fingerspitzen auf den Körper des Anderen, langsam in immer größeren Kreisen diesen unbekannten Planeten erforschend, allzeit bereit sich zurückzuziehen auf das "Mutterschiff" in die Geborgenheit des eigenen Ichs. Aber hier war keine Gefahr, kein Verletztwerden ersichtlich. Die Schönheit unserer Entdeckungen überwältigte uns. Die Worte verstummten, und wir lagen uns in den Armen. Greifend, klammernd, das Gefundene nur ja festhaltend. Die Lust, eine Haut zu spüren, einen fremden Mund mit der Zunge zu erfühlen! Schweiß in der Sonne, die Haare kitzelnd auf der Haut, und Leidenschaft überkam uns. Wir rollten im klebenden Sand, Beine und Arme ineinander verrenkt wie Laokoons Glieder mit der Schlange. Irgendwann dann - kurz vor der Ekstase - durchfuhr mich der Schock. Mein ganzes Inneres verkrampfte sich. Gefühl, Verstand und Unterbewußtsein reagierten vollkommen synchron auf diesen einen optischen Reiz. In den Himmel war mit Gewalt die Hölle eingebrochen! Ich hatte ihren Arm gesehen. Sei es, daß wir uns schon so nahe gekommen waren, daß die Impulse schon direkt über unsere Haut verstanden wurden, sei es, daß sie diesen Schock kannte aus der Erfahrung ihrer Jahre, sie begriff sofort. Resigniert wendete sie sich von mir ab, und ich tat in einer gegenläufigen Bewegung das gleiche. Mit toten Augen stierte ich in den Himmel und war unfähig sie anzusehen. Sie hob ihren Arm vors Gesicht."Ich war noch ein Kind, deswegen sind sie so groß," erklärte sie, und ihre ruhige Stimme löste meinen Krampf. Mit blauer Tinte war auf ihrem Unterarm eine KZ Nummer eintätowiert." Sie ist mitgewachsen! Zusammen sind wir aufgewachsen. Ich bin ihr nie entwachsen. Wir werden zusammen alt"wachsen" (so die wörtliche Übersetzung). Der Hölle kann man nicht entfliehen!"Es folgten lange, stumme Augenblicke. Bilder zerfetzten mein Gehirn: Fotos – schwarzweiß, Wochenschauen, amerikanische und russische Filme. Geöffnete Tore, Skelette, Öfen. Mütter mit Kindern mit großen, verhungerten Augen. - Gespenster die sich an Stacheldrahtzäune drängen. Gestalten, die so wenig Fleisch als
Wangen haben, daß das ungläubige Lächeln über geöffnete Tore zu einer Horrorgrimasse wird, mit der sie ihre Befreier begrüßen. Gerichtssäle wo Zeugen ihre Unterarme entblößen.
Ungläubig blickte ich zu ihr hinüber. Konnte es da eine Verbindung geben zwischen diesem schönen, braungebrannten Körper und diesen schwarzweißen Archivfotos? Sie hatte die Augen geschlossen. Der Ausdruck einer Sphinx. Sie spürte meinen Blick. "Ich hasse die Sauerkrauts! Noch immer. Ich weiß, ich sollte dies nicht sagen, nicht fühlen. Ich kann nicht anders! Ich habe es oft bekämpft. Ich kann aber nicht vergessen! Ich mag die Krauts auch heute noch nicht!"
Da ist er, dieser Knoten in meinem Hals, den wir Deutsche bei so manchen Reaktionen im Ausland, schlimmer denn je, und ich habe das Gefühl, er ist zu Recht da. Ich bin schuldig. Verlogen. Da saß ich nun unter meiner amerikanischen Tarnkappe und hatte mich als deutscher Spion in ihr Gefühl eingeschlichen, ließ sie unbewußt zum Verräter an ihren Erfahrungen werden. Ich mußte es ihr sagen. Mit einer Lüge kann man keine Beziehung beginnen. Aber die Wahrheit, spürte ich, wird sie beenden, ehe sie recht begonnen hat. Dieser Gedanke traf mich viel schmerzlicher, als ich gedacht hätte. Ich liebte sie! Schon jetzt, jetzt schon. Wir hatten schon zu viel abgeblättert von unseren Egos. Schon zu viel preisgegeben. Schon zu viel erkannt, und alles stimmte, wie ein Puzzle, das aufgeht, so fügten wir uns ineinander. Für einander gemacht schienen wir, allen Wahrscheinlichkeitsstatistiken zum Trotz; nun plötzlich diese zwei Steine, die sich nicht harmonisch ins Bild fügten, die deutsch- jüdischen Puzzlesteine. Als ob sie meine Gedanken erriet, murmelte sie:
"Ich könnte nie einen Deutschen lieben!" Und dann mit einem hellen Lachen wirft sie sich auf mich, "aber du bist ja kein gottverdammter Kraut. Dich kann ich lieben und ich glaube, ich fange schon an damit, du Scheißkerl! Verdreht mir mit seinem all-american Charme den Kopf. "
Sie biß mir liebevoll in die Nase, legte sich kuschelnd wie eine Glucke auf mich drauf, pustete meine Haarsträhne aus der Stirn und blickte mir tief in die Augen. „Ich liebe ihre Sommersprossen“, dachte ich, im Bruchteil einer Sekunde von ihrer erneuten Fröhlichkeit hingerissen, bis mein Magen wieder versackte. Judas muß sich so gefühlt haben nach dem verräterischen Kuß. Sie wollte unser unterbrochenes Liebesspiel wieder anfangen. Ich konnte nicht. Unmöglich. Bevor sie es merkte, schaute ich auf die Uhr." Es ist zu spät! Ich muß zurück aufs Boot!" Ich erzählte, daß ich den ganzen Sommer auf einem Fischerboot arbeitete, daß wir morgens und abends auf dem kleinen Kahn ausliefen, unsere hunderte Meter langen Netze setzten und sie ein paar Stunden später wieder einholten. Sie schmollte, weil ich sie schon verlassen wollte, akzeptierte aber unter der Bedingung, sie morgen wieder hier zu treffen. Ich versprachs mit einem Kuß. „Ich heiße Erika!“ „ Thomas!“ rief ich und sprang auf und lief davon. Erst einmal Zeit gewinnen zum Nachdenken.
Obwohl wir sehr oft auf dem Schiff übernachteten, warfen wir diesmal die Netze so nahe an der Küste aus, daß wir in den kleinen Ort zurückkehrten.
Im Hafen saß ich dann noch mit meinen beiden griechischen Fischern und schauten der untergehenden Sonne zu. Eine Karaffe „Raki“ nach der anderen wurde geleert, und das Meze war unser einziges Abendbrot. Als wir mehr als genug hatten, den Kopf voll von
Schnaps und Geschichten, ging ich zu dem kleinen Verschlag, den ich in einer Pension –„Bei Katharina“ gemietet hatte. Eine kleine Zelle mit einer dicken Tür und einem vergitterten Fenster, durch das allein Licht in das Innere gelangen konnte.
Es drehte sich alles in meinem Kopf. Meine Zimmertür ratterte im Wind. Die große Hoftür wurde aufgestoßen. Herein getrieben wurden im fahlen Licht Rodins Bürger von Calais. In Ketten. Man pfercht sie in mein Zimmer. Hände greifen durch die Gitterstäbe. Schreie, Stöhnen, Kettenrasseln. Ein SS-Typ verteilt Sauerkraut mit einem Schöpflöffel in die hohlen Hände. Eine der Hände ist braun und gar nicht ausgemergelt. Erika preßt das Gesicht an die Gitter und schlingt das Sauerkraut in sich hinein. Es sieht aus wie ein Bündel triefender Haare. Im Hof werden zu Skeletten abgemagerte Neuankömmlinge lebend in Fischnetze gerollt. Die Feuerfische mit ihren giftigen Stacheln, auf die ich beim Einholen der Netze immer so achtgeben muß, zappeln zu hunderten in den Maschen. Eine überdimensionale, lebende Dornenkrone. Schreie! Gregorius der ältere Fischer zieht an den Netzleinen. Die Küchentür im Hof wird aufgemacht. Der Ofen ist sichtbar. Flammenschein an den Türritzen. Er läuft auf Hochtouren. Aus der Dusche nebenan steigt weißer Rauch, der nach Säure riecht.
Ich öffne die Tür. Erika steht unter der Dusche und aalt wohlig ihren nackten Körper im sprühenden Strahl. Plötzlich schrumpft sie zusammen, zerknittert, zerfällt wie von Säure zerfressenes Styropor. Ich werfe die Tür mit einem Knall ins Schloß. Es ist die Hoftür,
Gregorius steht neben mir: "Wachen auf! Viel spät!"
Er strich mir mit einer väterlichen Geste übers Haar. Ich erwachte und sah, daß der Himmel sich schon rot färbte. Es war kurz vor Sonnenaufgang. Höchste Zeit, die Netze einzuziehen, sonst fressen bei aufgehender Sonne die Fische ihre gefangenen Artgenossen bei lebendigem Leibe auf, und man holt nur noch Gräten ein. Ich zog den Kopf unter seiner Hand weg. "Pame!" sagte ich. Gegen Mittag laufe ich zu unserer Bucht. Erika rennt mir freudig entgegen. Wir springen, lachen, schwimmen, legen Muschelmosaike auf unsere nackten Körper. Herzen von Pfeilen durchbohrt. "I love Thomas!" Wir sind ausgelassen und fröhlich und es gibt wenig Fragen, so verrate ich mich nicht.
Eines Tages erzählt sie mir ungefragt, wie sie im Lager als kleines Mädchen mißbraucht wurde. Jetzt lebt sie in Israel und kommt seit zwei Jahren hierher, um in Ruhe an ihrer Doktorarbeit zu arbeiten. Tief im Hals sitzt mein Kloß. Ich ignoriere ihn, wie ein Krebskranker seinen Tumor, weil er noch ein paar schöne Tage erleben will.
So vergingen die Tage, und Wochen. Und schließlich sorglos zwischen Arbeit und Liebesspielen war es Juli geworden. Die Sonne stach senkrecht herab. Um der Hitze zu entgehen, flohen wir ins Wasser und tummelten uns wie zwei Delphine, bis wir uns erschöpft und verfroren in den heißen Sand fallen ließen. Wir waren sehr glücklich und sehr hungrig. Wir stiegen in unsere Shorts und schlenderten auf das Dorf zu.
Während des Essens sagte sie unvermittelt: "Einen Kraut übrigens mag ich doch!" Ich denke, sie hat mich durchschaut, aber da deutet sie auf einen alten, hageren Mann, der sich gerade an einen der Nachbartische setzt. "Er lebt schon seit vielen Jahren hier und verführt die griechischen Knaben", fügte sie spitz lächelnd hinzu. "Er ist ganz anders als andere Deutsche. Ich habe ihn letztes Jahr kennengelernt. Manchmal tanzen wir abends in der Diskothek zur Bouzouki." Ich muß sehr erstaunt ausgesehen haben. Ob sie ihn nicht nur deswegen anders finde, weil sie ihn besser kennenlernte als andere, fragte ich. „Nein, nein! Griechenland hat ihn verändert". Später kam er herüber und lud uns zum Kaffee in sein Haus ein. Es war ein Zimmer mit einer herrlichen Terrasse. Außer einem großen Bücherregal war nur das Allernötigste vorhanden. Man nenne ihn hier „Kostas“ stellte er sich vor und begann auf einem kleinen Spirituskocher griechischen Kaffee zu kochen. Sie legte ihren Kopf an meine Schulter. "Ist er nicht umwerfend?" scherzte sie mit Kostas auf Deutsch. "Laß ja deine Finger von ihm!" "Er wäre aber aber eine willkommene Abwechslung von der griechischen Alltagskost“, lachte Kostas zurück. Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. "Untersteh dich! Der ist ganz mein!" Ich fühlte mich wie ein Kalb auf der Fleischbank. "Ich wußte gar nicht, daß du Deutsch sprichst?" warf ich auf Englisch ein, um das Thema zu wechseln "Macht dich das nervös, wenn du uns nicht verstehst, mein großer, amerikanischer Dummling?" Das Versteckspiel muß ein Ende haben, sagte ich mir.
"Ich bin bei einer Tante in London aufgewachsen. Sie war bei mir, als
die Tore von Auschwitz aufgingen. So lernte ich zuerst Krautsprache“, erklärte sie. Kostas drehte uns betont den Rücken zu und rührte etwas zu lange in seinem Kaffeepott. Ich legte den Arm um sie und zog sie sanft auf die Terrasse. Stumm glitten unsere Blicke zu der Linie, wo sich Meer und Himmel berühren.
"Ich muß dir etwas gestehen!" sagte ich auf Deutsch. Entsetzen in ihren Augen. Sie tritt einen Schritt zurück."Ich bin Deutscher“, kam es mir sehr schwer über die Lippen. Die Situation, in die wir geraten sind, hat diesen Satz zu einem Schuldbekenntnis werden
lassen. Ein Ausdruck unsäglicher Traurigkeit erfasste sie. Langsam glitt sie rückw.rts in den Schatten des Zimmers. Eurydike entschwindet erneut in den Hades, und wie Orpheus streckte ich die Hand aus, um sie zu halten."Erika!" Sie ist schon fort durch die Tür, die Treppe hinunter. Ich versuchte nicht, ihr zu folgen. Eingetreten war nur, was vorauszusehen gewesen war.
Abends sah ich sie dann, wie sie am Strand stehend unserem auslaufenden Boot nachschaute. Diese Nacht blieben wir draußen vor Anker. Ich schlief nicht und durchforschte rücklings auf den Planken liegend das Universum. Griechenland muß dem Himmel ein Stück näher sein. Man sieht mehr Sterne als anderswo. Ich fühlte mich winzig mit meiner verlorenen Liebe. Unendlich allein in einer übergroßen, unberührten Natur. Was erkannte ich von dieser Welt? Ein Staubkorn auf einem Raumschiff namens Erde dahinfahrend. Welche Welten und Wirklichkeiten blieben von mir unerkannt von diesem meinem so subjektiven Beobachtungsposten aus? Was war all dies um mich herum - Zufall oder Notwendigkeit? Was war ich, Produkt des Zufalls oder -? Einstein hatte nur bedingt Recht, durchfährt es mich. Die größtmögliche Geschwindigkeit ist nicht die des Lichts, sondern die unserer Gedanken. Sind sie wirklich immateriell? Sind sie nicht auch Energien, Strahlen, die ich jetzt durch das All schieße? Sie stellen Verbindungen her, also können sie nicht nur in meinem Inneren verharren. Sind sie nicht nur der Schlüssel zur Erkenntnis, sondern das Geheimnis selber? Kräfte, die ich benutze, deren Substanz mir aber unbekannt ist. Der Morgen dämmerte, und ich braute auf dem kleinen Kocher unseren Kaffee, den wir schweigend schlürften. Allmorgendlich eine fast sakrale Prozedur, ehe wir noch etwas steif anfangen, die Netze einzuholen.
Erika ging mir tagelang aus dem Weg. Sie war ein Schatten, den ich spürte, aber nie sah. Jeden Tag wurde meine Sehnsucht nach ihr stärker, und ich dachte kaum noch an etwas anderes. Aus lauter Verzweiflung besuchte ich Kostas öfters, weil ich wußte, daß er mit ihr in Kontakt stand. Er erzählte viel von seinem Leben seit dreißig Jahren in Griechenland, nie aber von Deutschland. Dorthin wolle er nicht mehr zurück. Er bekäme von dort eine kleine Pension, mit der er hier gerade auskomme. Ich wurde nicht schlau aus ihm. Jeden Tag las er seinen Goethe, ansonsten Reiseberichte und Lyrik. Kazantzakis und Rilke, Kavafis und neuere griechische Lyriker. Er lebte sehr bescheiden und gönnte sich nicht einmal eine Zeitung.
Eines Tages kam er zu „Katharinas“ in mein Zimmer. Ich lag auf der Pritsche und dachte an Erika. Sie habe ihm aufgetragen, mit mir zu reden. Sie reise bald ab und lasse mich umarmen. „Erika liebt dich, aber sie sagt, sie habe nicht die Kraft, diese Liebe auszuleben. Vor sich selbst habe sie Angst, vor der Gewalt der Erinnerungen, vor ihrem Unterbewußtsein. Plötzlich mußte ich lachen. All dies schien mir die Absurdität und die Ironie einer antiken Tragödie zu haben.
"Wir können alle nicht über unseren Schatten springen“, bemerkte Kostas. Ich dachte unwillkürlich an „unsere“ Sonnenfinsternis. Es gibt Momente ohne Schatten, da müßten wir eigentlich frei sein! Wie von weit her hörte ich Kostas: Er hatte auf die Grenzen in uns hingewiesen; jetzt wies er auf Grenzen außerhalb von uns hin: "Wir können alle unserem Schicksal nicht entfliehen!“
Dies war der letzte zusammenhängende Satz, den er in seinem Leben sprechen sollte.
Gedankenverloren nahm er einen Zeitungsartikel in die Hand, den ich mir aus einer deutschen Zeitung ausgeschnitten hatte. Er war schon ein paar Tage alt und die Nachricht längst im Strom der Geschichte untergegangen. Besprochen wurde eine Ausstellung afro-amerikanischer Kunst, ein Thema, das mich interessierte. Kostas überflog ihn flüchtig, spielte mit dem Papier, drehte und wendete es, während ich über unser angeblich unvermeidbares Schicksal nachdachte. Plötzlich fing dieser an die siebzig Jahre Alte an zu zittern. Sein Gesicht verfärbte sich grün. Er stand auf und tappte zur Tür hinaus. Ich lief hinterher. Was ihm fehle? Er schüttelte nur den Kopf. "Allein!" lallte er und stieß mich von sich. Ich folgte ihm bis zu seiner Tür, aber er wollte mich nicht mit hineinlassen und schloß von innen ab. Befremdet ging ich nach Hause. Am nächsten Morgen war seine Tür noch immer verschlossen, und ich kletterte über die Veranda.
Kostas lag auf dem Bett, so wie er mich verlassen hatte - angezogen. Er stank entsetzlich. Alles war vollgekotzt und auch seine Hose war beschmutzt. Er sabberte vor sich hin, als er mich sah:"Fürchterlich! Fürchterlich!" wiederholte er immer wieder. "Schicksal! Mein bester Kamerad! " Ich lief die Treppe hinunter, um Hilfe zu holen und stieß beinahe mit Erika zusammen, die Kostas gerade besuchen wollte.“Komm mit!" sagte ich nur und rannte wieder zurück. Sie stürzte direkt nach mir ins Zimmer, wo sie entsetzt stehen blieb. Mit ein paar Worten erklärte ich, was ich wußte und wir beschlossen, daß sie Katharina zu Hilfe hole.
Dann sah ich meinen Zeitungsausschnitt auf dem Boden liegen. Die Rückseite lag nach oben. Ein durch meinen Schnitt amputierter Artikel war in Teilen. lesbar. Wie Schuppen fiel es mir von den Augen und ich begriff. Kostas hatte ihn in meinem Zimmer zufällig gelesen, und vor Aufregung hatte ihn der Schlag getroffen. Berichtet wurde über den Sühneakt einer antifaschistischen, ehemaligen Partisanengruppe, die in Frankreich einen untergetauchten Naziverbrecher -SS-Offizier Peiper- bei Traves in Ostfrankreich aufgespürt und ihn mitsamt seinem Haus verbrannt hatte. Eine Liste mit Namen von verschwundenen Kriegsverbrechern ließen sie zurück und das Gelübde, diese alle aufzuspüren und umzubringen. "Thomas hier!"stammelte Kostas. Er bäumte sich auf und versuchte meine Hand zu greifen. Angeekelt zuckte ich zurück.
"Mein Leben. Vertan!" Er starrte mich mit riesigen Augen an. Die alte Haut sank in alle Mulden seines Schädels, sodaß er wie ein Totenkopf aussah. Er sah, daß ich begriffen hatte. Ich wandte mich ab und starrte aufs Meer. Meine Gefühle lagen im Widerstreit und ehe ich Klarheit gewinnen konnte, hörte ich Schritte. Hastig verbarg ich den Artikel in meiner Hosentasche. Erika und Katharina kamen mit Tüchern und heißem Wasser und begannen ihn auszuziehen und zu waschen.
Den Rest des Tages und die folgende Nacht saßen Erika und ich stumm bei ihm Wache. Ich war ratlos, ob ich ihr die Wahrheit sagen sollte. Seitlich auf dem Bett hockend erinnerte sie mich an biblische Bilder. Maria nach der Kreuzabnahme Jesu. Ihr Haar verdeckte einen Teil ihres Gesichts. Das Jahrhunderte alte Leiden ihres Volkes prägte jetzt ihre Züge. Vielleicht ist er der Henker ihrer Eltern, dachte ich.
Schweigend reichte ich ihr die Zeitung. Sie las sehr langsam, bis ihr Arm mit dem Fetzen Papier herabsank. "Irgendwo in mir habe ich es gewußt!" Sie hatte verstanden. Es folgte ein unendlich schweres Schweigen. Nur das Röcheln des Kranken kratzte an der fast absoluten Stille.
Sie bückte sich über ihn und zog die Decke höher über seine Schulter „Er ist jetzt nur noch ein alter, kranker Mann!" Als ob sie ihre Geste entschuldigen müßte. Ich wußte nicht, wohin ich sehen sollte.
"Thomas?" Kostas erwachte aus seinem Dämmerzustand. "Hand, bitte!" Er hauchte die Worte nur, aber die Stille der Nacht ließ sie vernehmbar werden."Gib sie ihm!" sagte sie, als sie mein Zögern spürte. Weit von mir gestreckt, ließ ich meine Hand berühren. Er umklammerte sie mit erstaunlicher Kraft. "Entsetzliche Schuld. Vergebt mit!" Ich legte ihm die andere Hand auf die Stirne. Mich bittet er um Vergebung? Absurd!. Wer bin denn ich, ein Urteil zu fällen oder gar zu vergeben? Meine Augen schwammen in Tränen. Ich wandte mich ab.
"Thomas!" Ihre Stimme ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. Sie wies auf Kostas. Seine Augen waren gebrochen. Wie im Trance erhob sie sich, drückte ihm die Augen zu. Ganz sanft umschloß ich ihre Hand, und wie eine Schlafwandlerin lies sie sich aus dem
Zimmer des Toten führen.
Als wir an meiner Pension vorbeikamen, klammerte sie sich an mich und übernahm die Führung bis in mein Zimmer. Der Schock der letzten Stunden hatte mich betäubt. Eng aneinander geschlungen versanken wir sofort in tiefen Schlaf. Ich erinnere mich, wie ich mit Erika im Arm von diesem Planeten herunterfiel. Wir stürzten in die unermeßlichen Tiefen des Raumes, Lichtjahre entfernt von aller Materie, nur wir beide, füreinander, von der totalen Einsamkeit der Leere umgeben.
Ich wachte auf, als die Sonne bereits hell durch das Gitterfenster schien. Man konnte in die grünen Wipfel einer Palme und einer Platane sehen, die, wie aus einem Stamm kommend, fast verwachsen an der seitlichen Hofmauer standen.
Erika erwachte. Die Sonne strahlte auf unser Bett. Langsam im Zeitlupentempo begannen wir unser Liebesspiel und steigerten es hin bis zu einer nicht enden wollenden Ekstase. Alle Tiefen und Höhen spielten wir aus. Liebe und Haß und Zärtlichkeit und Wollust, das Dämonische, Tierisches, Menschliches, Gewalt und Unterwerfung, Macht und Ohnmacht, die Verachtung, die Verherrlichung, die Sehnsucht, die Erfüllung, Erkennen und Verstehen, Hoffnung und Schmerz, Trauer und Freude, Leid und Lachen, Begierde und
Rausch.
Ierapetra, Kreta
Last edited by Roshan on Wed Aug 03, 2022 3:39 pm, edited 3 times in total.
Re: Wolf
Torso 2015
J. Wolf Breiden
Jasmin
Der Duft von blühendem Jasmin
den kein Parfüm, kein Öl, kein Inzens fangen kann,
der eine zarte Wolke schwebend den Vorübergehenden
einhüllend einlullt,
und Hafenteer und Katzenpisse und Fischgeruch –
den ganzen penetranten Drecksgestank,
der über allen Strassen liegt,
aus den Kanälen zieht,
mit seiner Lieblichkeit
verdrängt.
So wie die Liebe, die
im Augenblicke, da sie sich erfüllt,
die Mühsal unseres Lebens für kurze Zeit
vergessen macht, die Welt mit Blumen füllt,
so schwört der blühende Jasmin
Eros herauf
und Zärtlichkeit und Sehnsucht
und Geilheit auch,
die Sinne uns vernebelnd,
und wer vorübergeht, der geht mit angegriffenen Sinnen.
Gedankenbahnen werden umgeleitet bis
der Hafenteer und Aasgestank
und Motoröl und Auspuffgase
die Übermacht gewinnen
über zarte Blüten,
und Ärgernis und Leid in unserem Leben,
die langen Zeiten füllen
zwischen kurzen Lieben.
Der Duft von blühendem Jasmin
von goldengelben, schneeweißhellen Blütenkelchen,
Duftzerstäuber, Bienensirenen, honigsüß geschminkten Nutten,
die sich prostituieren im Unschuldsgewand.
Feingliederig gespreizte Spalten, begattungsoffen
und anbiedernd wie läufige Hündinnen
im kurzen Rausch Erfüllung suchend.
Rausch der Schönheit vor
der faltenreichen Erschlaffung,
der die Fülle folgt, die Frucht.
Aphrodite wandelt sich in Hera,
Schönheit in Mutterschaft,
Frauen gleich,
wenn den kurzen Sommern ihrer Mädchenblüte
die feiste Zeit der Frau und Mutter folgt.
Reproduktion des Lebens, Kampf
und Lust und Sucht und Fall,
Auswahl und Vermehrung,
Vernichtung und Tod.
Blüten des Jasmin,
Diamanten an den Stauden des Lebens,
weibliche Form und Vollendung
aufblühend und vergehend im Zeitenraffer
Feuerwerken gleich.
J. Wolf Breiden
Jasmin
Der Duft von blühendem Jasmin
den kein Parfüm, kein Öl, kein Inzens fangen kann,
der eine zarte Wolke schwebend den Vorübergehenden
einhüllend einlullt,
und Hafenteer und Katzenpisse und Fischgeruch –
den ganzen penetranten Drecksgestank,
der über allen Strassen liegt,
aus den Kanälen zieht,
mit seiner Lieblichkeit
verdrängt.
So wie die Liebe, die
im Augenblicke, da sie sich erfüllt,
die Mühsal unseres Lebens für kurze Zeit
vergessen macht, die Welt mit Blumen füllt,
so schwört der blühende Jasmin
Eros herauf
und Zärtlichkeit und Sehnsucht
und Geilheit auch,
die Sinne uns vernebelnd,
und wer vorübergeht, der geht mit angegriffenen Sinnen.
Gedankenbahnen werden umgeleitet bis
der Hafenteer und Aasgestank
und Motoröl und Auspuffgase
die Übermacht gewinnen
über zarte Blüten,
und Ärgernis und Leid in unserem Leben,
die langen Zeiten füllen
zwischen kurzen Lieben.
Der Duft von blühendem Jasmin
von goldengelben, schneeweißhellen Blütenkelchen,
Duftzerstäuber, Bienensirenen, honigsüß geschminkten Nutten,
die sich prostituieren im Unschuldsgewand.
Feingliederig gespreizte Spalten, begattungsoffen
und anbiedernd wie läufige Hündinnen
im kurzen Rausch Erfüllung suchend.
Rausch der Schönheit vor
der faltenreichen Erschlaffung,
der die Fülle folgt, die Frucht.
Aphrodite wandelt sich in Hera,
Schönheit in Mutterschaft,
Frauen gleich,
wenn den kurzen Sommern ihrer Mädchenblüte
die feiste Zeit der Frau und Mutter folgt.
Reproduktion des Lebens, Kampf
und Lust und Sucht und Fall,
Auswahl und Vermehrung,
Vernichtung und Tod.
Blüten des Jasmin,
Diamanten an den Stauden des Lebens,
weibliche Form und Vollendung
aufblühend und vergehend im Zeitenraffer
Feuerwerken gleich.
Re: Wolf
Torso 2017
HELLAS
Verlangend nach verlorenen Landen und Gezeiten
die Sehnsucht sucht irreversible Pfade,
den Rausch, das Wissen und die Helligkeit
von unbefleckten Meeren und Gestaden.
Gestalten fern im Dunstkreis des Ermessens
in Worte eingehüllt - jedoch -
unreflektiert bisher im Sein -
orgiastisch aufgelebte Götter
erfinden Leben dort im
Zeugungsrausch.
Und Zeit entsteht
und Haine grünen dann aus Böden
getränkt mit Sperma, Schweiß und Blut und Tränen.
Und Maß entsteht aus Stein
und Ordnung, die die Gegensätze eint.
In wilder Geilheit lieben dort die Götter
Und wen sie liebend zeugen,
der erlangt
Unsterblichkeit.
HELLAS
Verlangend nach verlorenen Landen und Gezeiten
die Sehnsucht sucht irreversible Pfade,
den Rausch, das Wissen und die Helligkeit
von unbefleckten Meeren und Gestaden.
Gestalten fern im Dunstkreis des Ermessens
in Worte eingehüllt - jedoch -
unreflektiert bisher im Sein -
orgiastisch aufgelebte Götter
erfinden Leben dort im
Zeugungsrausch.
Und Zeit entsteht
und Haine grünen dann aus Böden
getränkt mit Sperma, Schweiß und Blut und Tränen.
Und Maß entsteht aus Stein
und Ordnung, die die Gegensätze eint.
In wilder Geilheit lieben dort die Götter
Und wen sie liebend zeugen,
der erlangt
Unsterblichkeit.
Re: Wolf
The daytrip in 1983.
Nine years later, in 1992.
Those were the two times we saw each other. We never saw each other again after that but once we reconciled we were always supposed to.
I wonder what would have happened if we'd video chatted instead of used regular telephone.
Nine years later, in 1992.
Those were the two times we saw each other. We never saw each other again after that but once we reconciled we were always supposed to.
I wonder what would have happened if we'd video chatted instead of used regular telephone.